Von Claudia Dietze
Sozialforscher:innen und Stadtplaner:innen postulieren seit einiger Zeit eine Trendwende hin zu einer Verflechtung von Verkehrsbeziehungen oder zum „shared space“ – und weg von der „autogerechten Stadt“, auch wenn diese in den Städten und Metropolen noch sehr real existiert. Die Abkehr vom motorisierten Individualverkehr und die Hinwendung zum nicht-motorisierten bzw. einer breiteren Nutzung des Öffentlichen Personennahverkehrs führt zunehmend dazu, dass „automobilisierte Infrastruktur“1 abgerissen wird. Ein Schicksal, das vor allem Garagenhöfe und Einzelgaragen trifft. Doch während hierzulande beispielsweise Reihengaragen aus DDR-Zeiten abgerissen werden, sind sie in Finnland noch immer präsent. Es kommen auch noch neue dazu. Denn ein so dünn besiedeltes Land, das auf einer Fläche so groß wie Deutschland gerade einmal 5,5 Millionen Einwohner zählt, bietet genügend Platz für die im Finnischen autotallit genannten Garagen, und die langen Winter rechtfertigen ihren Gebrauch.
In den ländlichen Regionen Finnlands verfügt jedes Grundstück über einen Unterstand oder eine Garage. In Großstädten wie Turku, Tampere, Vantaa, Espoo und Helsinki bieten Großgaragen, wie die architektonisch ansprechenden Parkhäuser, vielen PKW Platz.
Dieser Trend ist aber jüngeren Datums, verbreiteter sind Tiefgaragen in den Untergeschossen von Häusern, die, wie das gesamte Fundament, in das Gestein gesprengt werden. Sind die Häuser jedoch nicht so groß dimensioniert oder handelt es sich um historisch gewachsene Stadtstrukturen, reicht auch der Platz auf der Straße vor der eigenen Wohnung. Ausgestattet sind die meisten Parkplätze, ob in einer Garage oder auf der Straße, mit einer Steckdose für die Motorheizung, damit das geliebte und wichtige Fortbewegungsmittel im Winter nicht einfriert; denn auch die sonst so naturverbundenen Finnen sind eine Autonation.
Städtebaulich hat die Charta von Athen in Finnland ebenso Ideen für die autoorientierte Stadt und die dementsprechende Trennung von Verkehr und städtischen Funktionen geliefert, wie in anderen europäischen Ländern.2 Für die ländliche Bevölkerung ist das Auto ein unabkömmliches Gefährt, um von Dorf zu Dorf zu kommen, denn zwischen Wohnort und Hausarzt oder Nachbarn können schon einmal 70 km und mehr liegen. Aber auch in den größeren Städten, die einen sehr gut ausgebauten Öffentlichen Personennahverkehr haben, mit Bussen, Straßenbahnen und z.T. Metro, verzichten viele nicht auf ihr eigenes Kraftfahrzeug.
Die autogerechte Stadt ist auf die Verfügbarkeit von ausreichendem Platz für den ruhenden Verkehr angewiesen. Ein fast lehrbuchhaftes Beispiel dafür lässt sich in Espoo entdecken, der westlichen Nachbarstadt von Helsinki: In der dortigen Satellitenstadt Tapiola finden sich Garagenanlagen, die an solche aus der DDR erinnern, wie auch neue, funktionale. Oft als Gartenstadt im Howard‘schen Sinne3 bezeichnet, zählt sie zum sog. New Towns Movement4, was nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte und soziale Probleme und Fragen der Stadtplanung lösen wollte. Tapiola wurde in den 1950er und -60er Jahren als autarkes Stadtkonzept von namhaften finnischen Architekten verwirklicht. Es gehört also in die Zeit starker Urbanisierung, die in Finnland erst spät, nämlich in den 1960er- und 70er Jahren, einsetzte.5 Finanziert durch die private Stiftung asuntosäätiö, übernahm Heikki von Hertzen die Planung; die Gesamtausführung oblag einer Architektengruppe um Aarne Ervi, einem der bedeutendsten Architekten der finnischen Nachkriegsmoderne. Es entstand eine moderne Stadt mit den „Experimenten verschiedener Architekten“6 harmonisch eingebettet in die finnische Landschaft. Heutzutage wünschen sich viele Finninnen und Finnen mit ihren Familien in Tapiola zu wohnen, da es idyllisch ist und für Kinder viel Platz bietet. Doch die Bewohnerinnen und Bewohner der ersten Stunde waren oft nicht glücklich über ihren Umzug. Beispielsweise berichtete die Kunsthistorikerin Riita Nikula in einem Interview: „I felt so ashamed to move to Tapiola in the 70s because it was so unfashionable. It was really kind of stupid for a young academic family to move out of the centre of Helsinki.“7
Bis heute wird Tapiola baulich erweitert, z.T. nach den Plänen aus den 1960er Jahren. Und so finden sich inmitten der weißen klaren Wohnanlagen mit Flugdächern halbrunde Garagenhöfe mit Holztüren, die ein bisschen aus der Zeit gefallen scheinen: Die kreisförmige Anordnung kontrastiert mit den geraden oder leicht geschwungenen Linien der Wohngebäude, der Blick wird über die Dächer hinweg in die Landschaft gelenkt.
Das Platzangebot ist ausreichend, jedoch nicht üppig. Es bedarf der Kommunikation und einer gewissen Reihenfolge bei der Ein- und Ausfahrt. Einige Straßen weiter aber dann die heutigen Garagenanlagen mit Rolltoren und mehr Platz für große Autos. Im Gegensatz zum runden Garagenhof wirken sie wie Bausätze aus dem Katalog, es dominiert ein Nebeneinander, Rücksicht auf den Nachbarn ist nicht (unbedingt) notwendig.
Auch im Norden ist, bei aller Zukunftsgewandtheit, der motorisierte Individualverkehr nicht wegzudenken und die oft totgesagte autogerechte Stadt scheint lebendiger denn je.8 Beispielhaft sind hier die Diskussionen über die Anbindung der Autobahn 51 (Espoo – Helsinki) an die Innenstadt, die die Zerstörung der Lapinlahti-Bucht zur Folge hätte.9
- Christoph Bernhardt, Längst beerdigt und doch quicklebendig. Zur widersprüchlichen Geschichte der „autogerechten Stadt“, in: Zeithistorische Forschungen 14 (2017), S. 526-540, hier S. 526. ↩︎
- Zur Charta von Athen und den Maximen moderner Stadtentwicklung Brigitte Adam; Guy Baudelle; Marc Dumont, Räumliche Doktrinen der Stadtentwicklung: Beständigkeit und Wandel im Laufe der Zeit, in: Evelyn, Gustedt; Ulrike Grabski-Kieron; Christophe Demazière; Didier Paris (Hg.): Städte und Metropolen in Frankreich und Deutschland, Hannover 2023, S. 44-62, hier S. 52. ↩︎
- Ebenezer Howard, Garden Cities of tomorrow, London 1902. ↩︎
- Vgl. Pierre Merlin, The New Town Movement in Europe, in: The Annals of the American Academy 451 (1980), S. 76-85. ↩︎
- Zur Urbanisierung in Skandinavien vgl. Annette Weisner, Großstadtbild und nordische Moderne. Untersuchungen zur Großstadtdarstellung in der skandinavischen Malerei von 1870 bis 1920, Kiel 2012. Zur gerechteren sozialen Inklusion aller Bevölkerungsschichten in die Stadtgesellschaft vgl. Mats Stjernberg; Sandra Oliveira e Costa; Hjördís Rut Sigurjónsdóttir; Moa Tunström, Overcoming barriers to social inclusion in Nordic cities through policy and planning, in: Nordregio Report 2020:9. ↩︎
- Karl Fleig, Alvar Aalto, Zürich 1984, S. 236. ↩︎
- Interview mit Riita Nikula, in: Birgit Schlieps, Rohmodelle. Aktau_St. Petersburg_Hoyerswerda_Tapiola_Sofia, Frankfurt am Main 2005, S. 68-69, hier: S. 68. ↩︎
- Bernhardt (wie Anm. 1), Längst beerdigt, S. 540. ↩︎
- Jukka Perttu, Helsinkiin halutaan uusi tunneli: Länsiväylän päälle tulisi asuntoja ja uusi Baana, in: Helsingin Sanomat, 15.04.2023. ↩︎